„Sag mir, wo die Männer sind“ Die Sorgen einer kriegführenden Nation

Politik

Ganz unabhängig vom Streit, ob nun Deutschland im Krieg gegen Russland ist oder nicht, beschäftigen die deutsche Öffentlichkeit Themen, die auf die Frage nach der Kriegspartei eine eindeutige Antwort geben - auch wenn bei diesen Themen der Krieg nicht unmittelbar Gegenstand sein muss.

Kirche in Saporischschja nach einem russischen Bombardement, 9. August 2023.
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Kirche in Saporischschja nach einem russischen Bombardement, 9. August 2023. Foto: Dsns.gov.ua (CC-BY 4.0 cropped)

21. September 2023
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Korrektur
Damit übertitelt Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung vom 9/10.9.2023 seinen Kommentar. Gefragt wird nach den ukrainischen Männern, die sich angesichts des Krieges ins Ausland abgesetzt haben, weil sie nicht bereit sind, ihren Kopf für ihr Land hinzuhalten. Allein dieses Thema dementiert das Bild, das alle Medien von der ukrainischen Bevölkerung gemalt haben: ein ganzes Volk ständig voller Kampfesmut und Kampfbereitschaft.

Ein Bild, an dem die SZ munter mit gemalt hat. Geflohen waren demnach nur Frauen und Kinder, die als Opfer russischer Aggression unsere Hilfsbereitschaft verdient haben. Wenn nun festgestellt wird, dass sich auch unter den Geflohenen Männer befinden, die eigentlich an die Front gehören und sich einer Zwangsverpflichtung entzogen haben, dann wirft das für einen moralisierenden Journalisten Fragen auf, zum Beispiel, ob diese Männer nicht als Kriegsdienstverweigerer gelten könnten: „Wer Pazifist ist oder auch aus anderen religiösen Gründen keine Waffe in die Hand nehmen mag, verdient Achtung. Den lassen wir in Ruhe. Den zwingen wir nicht. So steht es in Artikel 12a der Verfassung. Sollte das jetzt auch für Ukrainer gelten? Das ist keine bloss theoretische Frage, sondern zunehmend eine praktische.“ (R.S.)

Zwar werden Kriegsdienstverweigerer auch hierzulande nicht in Ruhe gelassen, sondern hatten in der Vergangenheit Ersatzdienst zu leisten und werden im Kriegsfall für andere Aufgaben verplant, doch das tut hier nichts zu Sache. Den Kommentator der SZ treibt vielmehr die Frage, ob dieses Recht auf Kriegsdienstverweigerung nur Deutschen oder auch Ukrainern zugestanden werden kann, oder ob letztere nicht mittels deutscher Staatsgewalt an die Front befördert gehören. Er kommt zu dem Schluss: „Es ist immerhin ein seltsames Signal, das sie (die Bundesregierung) an die Ukraine sendet, wenn sie notleidenden Menschen dort einerseits mit Panzern und Haubitzen hilft, millionenschwer, ihnen andrerseits nicht damit helfen möchte, zunächst einmal die eigenen wehrpflichtigen Leute zurückzuschicken.“ (R.S.)

Eine seltsame Logik, die der Kommentator da entfaltet. Wenn Menschen in der Ukraine durch den Krieg in Not sind, dann fehlt ihnen meist ein Dach über dem Kopf, Essen, Kleidung und so weiter. Ihre Not wird mit Panzern und Haubitzen nicht beseitigt, sondern verlängert. Schliesslich helfen diese Mittel nicht den notleidenden Menschen, sondern der Regierung, ihren Krieg weiter zu führen, für den es zunehmend auch an Menschenmaterial fehlt.

Deshalb denkt der verantwortungsvolle Journalist darüber nach, dass auch die hier lebenden ukrainischen Männer eigentlich an die Schlachtbank der Front gehören, auch wenn er sich letztlich nicht zu einem eindeutigen Votum durchringen kann: „Die bedrängten Ukrainer soll sie jetzt trotzdem unerbittlich zum Kämpfen zwingen? Das wäre dann doch eine eigenartige Form von Solidarität mit ihnen.“ (R.S.) So erweist sich Deutschland nicht nur in Sachen Militärausstattung sondern auch in Bezug auf das Menschenmaterial als potenzielle Nachschubbasis der Ukraine.

Die Verteidiger unserer Werte und unserer Freiheit korrupt?

Eigentlich keine Frage, denn dass die Ukraine von Oligarchen und korrupten Politikern beherrscht wird, war schon vor Ausbruch des Krieges bekannt und wurde als Argument gehandelt, dass die Ukraine nicht schnell Mitglied der EU werden könnte. Es war die Leistung der Medien, dies alles vergessen zu lassen und ein Bild des heldenhaften Volkes zu zeichnen, das ganz auf der Linie westlicher Werte und demokratischer Institutionen agiert.

Nun tauchen wieder Meldungen auf, die dieses Bild eintrüben: „Die Festnahme des Oligarchen – kann die Ukraine den Kampf gegen die Korruption gewinnen?“ fragt der Bayerische Rundfunk am 10.9.2023 „Es heisst, die Ukraine führe zwei Kriege – einen gegen den Aggressor Russland und einen gegen die Korruption. Seit einer Woche sitzt der Oligarch Igor Kolomoyskyj wegen des Verdachts auf Korruption in Untersuchungshaft. Er gilt als einer der reichsten Männer in der Ukraine. Seine Verhaftung zeigt, dass Kiew es ernst meint mit der Bekämpfung der Korruption. Doch die Verhaftung des Oligarchen wirft auch Fragen auf.“

Einerseits will der Bayerische Rundfunk der Ukraine bescheinigen, dass sie ernsthaft gegen die Korruption im Lande vorgeht, andrerseits ist es schwierig, diese Behauptung aufrecht zu erhalten, schliesslich ist dies ja kein Einzelfall: So wurde der Verteidigungsminister wegen Korruption entlassen und zum Botschafter gemacht, und die Tagesschau meldete bereits im Mai: „Ukraine, Korruptionsverdacht bis in die höchste Justiz.“ (17.5.2023)

Zudem lässt der Umgang des Präsidenten Selenskyj mit diesen Fällen - dessen neu aufgestellte Anti-Korruptionsbehörde BEB sich durch systematische Korruption auszeichnet (SZ 13.9.2023) - Zweifel an dessen Einstellung in Sachen Korruption aufkommen. Schliesslich finden sich zu oft auf beiden Seiten des Krieges gegen die Korruption die gleichen Figuren: „Vorsicht vor dem Sheriff: Wie Selenskyjs Kampf gegen die Korruption die Demokratie gefährdet“, warnt die Berliner Zeitung am 10.9.2023.

Das hindert die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock nicht, die Ukraine bei ihrem Besuch in Kiew für ihren erfolgreichen Kampf gegen die Korruption zu loben und auf ihre Weise deutlich zu machen, dass dies für die westlichen Länder ein wichtiges Thema ist. (Tagesschau 11.9.2023) Bei ihrem Versprechen der Unterstützung der Ukraine beim EU-Beitritt schob sie daher nach: „Die Ukraine könne Beachtliches vorzeigen bei den Reformbemühungen, aber das 'besonders dicke Brett Korruption' müsse die Regierung entschieden angehen.“ (SZ 12.9.2023)

Die Wiederentdeckung der Korruption, wenn beispielsweise der Verteidigungsminister für viel Geld statt Winterkleidung Sommerkleidung für seine Soldaten einkauft, wirft natürlich auch die Frage nach der Effektivität der Kriegsführung im Lande auf, das nicht nur Deutschland mit milliardenschwerer Rüstung und Milliarden für den Haushalt am Leben hält. Wenn dann auch noch der Erfolg des Krieges ausbleibt und die Frühjahrsoffensive kaum bis Herbst Erfolge zeigt, dann kommen offenbar den Unterstützern des Krieges Zweifel an denen, denen sie ihre Waffen und ihr Geld anvertraut haben.

Die haben sicherzustellen, dass ihr Geld in guten Händen ist und der Einsatz der Mittel die Russen auch wirklich schädigt. Und da bleiben eindeutige Erfolge aus. Das hat das Satire-Magazin Titanic schon zu der Überschrift verleitet: „Ukraine verpatzt Gegenoffensive. Wir wollen unser Geld zurück.“ Wie jeder Witz enthält er einen Kern Wahrheit. Bei aller Solidarität mit der Ukraine: Deutschland hat noch andere Sorgen.

Fehlendes Wirtschaftswachstum

Beklagt wird allenthalben fehlendes Wirtschaftswachstum und damit die Rezession im Lande. Es ist eben oberstes Ziel der Politik, dass die Wirtschaft wächst. Aus dem investierten Geld hat gefälligst mehr Geld zu werden. Die als Investoren ihr Geld anlegen, sollen ihr Vermögen vergrössern. Wenn die Reichen nicht reicher werden, dann ist Krise und von dem Wachstum des Reichtums der Vermögenden ist alles im Lande abhängig gemacht, die Steuern wie die Einkommen der Bürger. Deshalb muss nun alles getan werden, damit die Wirtschaft wieder wächst. Beklagt werden die hohen Energiepreise als Hindernis für Wachstum. So wird deutlich, dass auch hier der Krieg eine Rolle spielt. Als Schuldiger ausgemacht ist hier natürlich Putin.

Dies zeigt aber auch, dass der Erfolg der deutschen Wirtschaft, die jetzt als „kranker Mann Europas“ tituliert wird, auf den billigen Energielieferungen aus Russland beruhte. Als Grossabnehmer von Gas und Öl konnte Deutschland offenbar den Preis diktieren – so viel zur Abhängigkeit Deutschlands von Russland. Sanktionen haben eben immer eine doppelte Wirkung. Die Aufkündigung von Geschäften schädigt eben beide Geschäftspartner - denjenigen, der mit billiger Energie seine Konkurrenten unterbieten konnte, und denjenigen, der mit dem Verkauf von Öl und Gas sein Geschäft gemacht hat. Die Folgen dieses Wirtschaftskrieges, der Russland schädigen sollte, machen sich eben auch im eigenen Lande bemerkbar. Diskutiert wird daher der Industriestrom, subventionierter Strom, der den Geschäftemachern das Geschäft und den Gewinn wieder leichter machen soll.

Ebenfalls als Schuldige ausgemacht sind die Verbraucher. Ein Gutachten der EU-Kommission führt aus: „Doch im ersten Halbjahr sei das Wachstum deutlich schwächer ausgefallen als erwartet, heisst es in der neuen Prognose. Das habe zunächst an Lohneinbussen gelegen: Infolge der Inflation haben Arbeitnehmer weniger Geld zum Ausgeben zur Verfügung, die Nachfrage sinkt.“ (SZ 12.9.2023)

Hatte noch vor Tagen die gleiche Zeitung den Arbeitnehmern Reallohnsteigerungen vorgerechnet, indem sie die Bezugsgrössen entsprechend wählte, so hat sie jetzt offenbar kein Problem, das Gegenteil zu melden. Dabei muss man kein Mathematikgenie sein, um aus den Zahlen der Tarifabschlüsse und der offiziellen Inflationsrate herauszufinden, dass die Einkommen der Lohn- und Gehaltsempfänger geschrumpft sind. Die Klage über die geringere Nachfrage macht jedoch auch deutlich, welches Wunder Löhne und Gehälter in der Marktwirtschaft vollbringen sollen: Als Kostenfaktor für Unternehmen sollen sie immer niedrig sein, um den Gewinn nicht zu gefährden; als Nachfragefaktor zur Realisierung der produzierten Waren soll ihr Einkommen herhalten und erweist sich immer wieder als zu gering.

Wo schon die Verbraucher versagen, und auch das Ausland nicht den Absatz deutscher Waren garantiert, da sieht sich der Staat gefordert, das Geschäft am Laufen zu halten und anzukurbeln. Das alles kostet Geld und beansprucht den Haushalt des Staates. Was nicht ohne Konsequenzen bleibt.

Der Sparhaushalt

Die diesjährige Haushaltsdebatte war ganz davon geprägt, dass wieder gespart werden muss, dass die Schuldenbremse wieder einzuhalten ist und die einzelnen Haushalte auf ihre Wirkung für den Erfolg der Nation durchzumustern ist. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, denn Geld soll fliessen und das nicht zu knapp in die Wirtschaft, die es wieder anzukurbeln gilt. Und auch mit den Schulden ist das so eine Sache. Denn damit Deutschland auch wieder dominierende Militärmacht in Europa wird, hat die Regierung mit der Zeitenwende einen Sonderfonds eingerichtet von 100 Milliarden Euro, der das sicherstellen soll.

Dieser Fonds besteht aus nichts anderem als aus neuen Schulden, die aber nicht im Haushalt verbucht, sondern ausserhalb gehandelt werden. Auch hat die Regierung für die Umgestaltung der Wirtschaft in Richtung erneuerbarer Energie Mittel ausserhalb des Haushaltes bereitgestellt. Sodass zwar viele neue Schulden durch die Regierung gemacht werden, diese aber nicht im Haushalt erscheinen und so die Schuldenbremse eingehalten wird. Denn wenn es um die bedeutenden staatlichen Ziele wie Militär und Wirtschaft geht, dürfen die vorhandenen Steuereinnahmen keine Grenze darstellen, und es gilt, die Kreditwürdigkeit des Staates zu nutzen.

Anders sieht dies bei den Kosten für die Bevölkerung aus, die allein schon unter dem Titel Soziales den grössten Teil des Haushaltes umfassen. Hier gilt jetzt die Schuldenbremse. Die Löhne und Gehälter der Bürger reichen einfach nicht aus, um ein Leben als Arbeitskraft zu bestreiten. Deren Existenz als brauchbare Glieder der Gesellschaft muss auch gesichert werden. Zwar hat der Staat den Lohn- und Gehaltsempfängern die Kosten für die Notfälle des Arbeitslebens in Form von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter durch Zwangsversicherungen selbst aufgehalst, doch diese Umlagen reichen in der Regel für die anfallenden Kosten nicht aus. So sind die Sozialversicherungen ständig auf staatliche Zuschüsse angewiesen, zumal der Staat auch sehr frei darin ist, welche Aufgaben durch die Sozialversicherungen und welche er durch seinen Haushalt bestreiten will.

Weil diese Ausgaben die Mittel für andere Aufgaben wie Ausbau der Wirtschaftswege, Militär und Ankurbelung der Wirtschaft beschränken, auf die es ja besonders ankommt, gilt das Spargebot vor allem diesem Bereich: „Natürlich kann man mehr Geld für Sozialleistungen ausgeben, oft gibt es gute Gründe dafür. Zum Beispiel die steigende Zahl von Rentnerinnen und Rentnern, hunderttausende Ukrainer, die nach Deutschland geflüchtet sind, oder eine Absicherung von Menschen, die am Existenzminimum im Bürgergeld leben. So aber, wie es derzeit läuft, geht dies zulasten anderer Aufgaben und von Arbeitnehmerinnen und Arbeitgebern, die das über höhere Sozialbeiträge bezahlen müssen.“ (Roland Preuss in der SZ. 11.9.2023)

Rentnerinnen und Rentner bekommen nur Geld, wenn sie ihr Leben lang in die Rente eingezahlt haben, aber das Geld reicht dafür offenbar nicht. Dass die Finanzierung der Aufnahme von Geflüchteten auch über die Sozialversicherungen läuft, ist für den Kommentator eine Selbstverständlichkeit. Dass Ausgaben der Sozialversicherungen und Aufwendungen über Steuern unterschiedslos als Sozialausgaben gehandelt werden, zeigt die Freiheit der Politik über die Sozialkassen wie über den eigenen Haushalt verfügen zu können. Und so ist es auch die grösste Selbstverständlichkeit, wer für das Ganze aufzukommen hat: „Das wird absehbar die Beiträge für die Sozialversicherung weiter in die Höhe treiben. Ein halbes Prozent hier, ein Viertel Prozent da, das mag zunächst einmal harmlos erscheinen. Aber es macht Arbeiten für Beschäftigte wie für Arbeitgeber teurer und damit wenig attraktiv.“ (R.P.)

Es sind nicht nur die Beiträge der Sozialversicherungen, die in zunehmendem Masse die Einkommen von Lohn- und Gehaltsempfängern schmälern, denn mit nominell steigenden Löhnen, die zwar nicht die Inflation ausgleichen, aber zu steigender Steuerprogression führen, werden diese Menschen ebenfalls zur Kasse gebeten. Der Kommentator stellt sich gleich auf den Standpunkt von Arbeitgebern, deren Kosten für die Beschäftigung von Arbeitnehmern steigen und so deren Gewinnrechnung belasten. Nur wenn sich auch die gestiegenen Kosten lohnen, werden sie eben getätigt, womit die Frage der Attraktivität beantwortet ist. Anders bei den Arbeitnehmern, denen sich die Frage der Attraktivität so gar nicht stellt, müssen sie doch in jedem Fall an Geld kommen, um zu leben.

So werden die Bürger von oben für die Solidarität mit der Ukraine in die Pflicht genommen, ohne dass sie je dazu befragt worden wären. Sie sind eben wie die Russen und Ukrainer die Verfügungsmasse ihrer Regierungen - wenn auch in Deutschland mit weniger blutigen Folgen.

Suitbert Cechura